9/11 - Der Tag, an dem die Welt stehen blieb

Es gibt Tage, die prägen sich ins kollektive Gedächtnis ein. Es gibt Ereignisse, zu denen alle auf die Frage antworten können, "Wo warst Du, als....?" Für die Älteren gehörte dazu wohl der Tag, an dem John F. Kennedy ermordet wurde.  Eine Generation später dürfte es der Fall der Mauer gewesen sein. Und dann: Der Tag, an dem die Flugzeuge die Türme des World Trade Centers trafen und der 11. September zu dem Tag wurde, der nicht nur in New York die Wirklichkeit veränderte.

Mittlerweile ist schon wieder eine Generation herangewachsen, die keine oder nur vage Erinnerungen an den Morgen hat, als Menschen in aller Welt an den Fernsehbildschirmen Zeugen wurden, wie sich das zweite Flugzeug in den Südturm bohrte, wie Menschen in die Tiefe stürzten, wie mit dem Sturz der Türme die Skyline New Yorks zur klaffenden Wunde wurde.  Mitchell Zuckoff hat in seinem Buch  "9/11 - Der Tag, an dem die Welt stehen blieb" minutiös den 11. September beschrieben und folgt darin Menschen,  für die an dem Tag alles endete - weil sie an Bord der Flugzeuge waren, weil sie im World Trade Center um ihr Leben kämpften, weil sie zu den Rettern oder Krisenmanagern gehörten oder weil sie überlebende Angehörige  sind.  "Jetzt haben wir seinen ersten und seinen letzten Schrei gehört" - diese Erkenntnis eines Elternpaares, das im Augenblick des Einschlags ins World Trade Centers mit seinem Sohn an Bord eines der Flugzeuge telefoniert, bleibt im Gedächtnis.

Zuckoff war Journalist des Boston Globe und hat bereits in dieser Funktion eine Reportage aus der Sicht von sechs Betroffenen geschrieben - aus Boston waren Mohammed Atta und die anderen Terroristen gestartet, als sie die Flugzeuge in ihre Gewalt brachten. Auf mehr als 500 Buchseiten lässt Zuckoff den Leser den Menschen folgen, die zu Geschäftsreisen oder Urlaub an Bord der Maschinen gehen, die zu Hause auf ihre Lieben warten,  zu einer Besprechung ins World Trade Center aufbrechen oder einen nur scheinbar ganz normalen Tag bei der Flugsicherung oder in der Feuerwehrzentrale begannen.

Die Dramatik bahnt sich  dabei von den ersten Seiten an - der Leser weiß schließlich: dieser Septembertag wird tragisch enden. Keiner der Menschen an Bord der Flugzeuge, die Zuckoff  in ihrem familiären Kontext beschreibt, wird den Tag überleben. Was aus den beschriebenen Menschen in den Bürotürmen, in der Feuerwehrstation oder Rettungszentrale wird, das  lässt sich im Verlauf des Buches verfolgen. Es gibt Episoden voll Mut und Entschlossenheit, aber auch Hilflosigkeit und Angst. 

Angesichts Zuckoffs Vergangenheit als Journalist  könnte man erwarten, dass 9/11 eine dokumentarische Reportage ist, mit der professionellen Distanz, die bei aller Betroffenheit dazugehört. Das ist hier nicht der Fall. Der Autor kriecht regelrecht in die geschilderten Personen hinein, schildert ihre Gefühle und Gedanken in einer Art und Weise, wie es in Reportagen spätestens seit dem Fall Relotius tabu sein sollte. Denn das liest sich zwar gefühlig und persönlich, aber um gesicherte Fakten handelt es sich  eben nicht.  Nun ist 9/11 ein Buch, keine Zeitungsreportage. "Zuckoff möchte Erinnerungen schaffen, wo bisher nur abstrakte Nachrichten existierten", heißt es im Klappentext.  Ein zwiespältiges Gefühl bleibt allerdings zurück, wenn diese so dokumentarisch angehauchten Erinnerungen letztlich nur Fiktion sein können.

Einen etwas schalen Beigeschmack hinterlässt auch die immer wiederkehrende Hervorhebung von Patriotismus, liebevollen Familienmenschen, großartigen Vätern und Müttern, unschuldigen Kindern, deren Leben zerstört wurde.  Angesichts des Ausmaßes des Verlusts von Menschenleben wäre es gar nicht nötig gewesen, hier noch zusätzlich ständig Emotionen heraufzubeschwören, im Gegenteil - mehr Sachlichkeit hätte da nicht geschadet. Denn auch so gibt es reichlich Dramatik, werden Enge, Hitze, Staub und Angst nachvollziehbar.

Nur sehr kurz gerät angesichts der Konzentration auf den Verlauf des 11. September der Buchteil "Aufstieg aus der Asche", der sich mit dem "Danach" befasst, mit den Überlebenden und Hinterbliebenen. Angesichts all der Jahre, die seit 2001 vergangen sind, hätte ich mir gewünscht, dass Zuckoff hier noch mehr auf die veränderte Welt, die veränderte amerikanische Gesellschaft und die neuen Konflikte eingegangen wäre, wenn er auch kritisch auf Fehleinschätzungen und politische Manipulationen  im Zuge der Weltordnung nach 9/11 eingegangen wäre.

Guantanamo und die Folter von Terrorverdächtigen werden eher nebenbei und ohne Hinterfragen erwähnt. Nur eine der beschriebenen Angehörigen spricht sich gegen die militärischen Folgen nach 2001 aus. Denn so unschuldig die Opfer des 11. September waren, so unschuldig waren auch die zivilen Opfer etwa des Irakkriegs oder der Drohnenangriffe, die lediglich als "Kollateralschaden" in die Welt nach dem 11. September eingingen.

Mitchell Zuckoff, 9/11. Der Tag, an dem die Welt stehen blieb
S. Fischer Verlage, 2020
702 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-10-390011-8

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