Am Ende der Familiengeschichte - "Alma"

"Dead as a dodo" heißt es in einer englischen Redewendung, und gemeint ist damit, dass etwas unwiderruflich dahin ist. Jeder Wiederbelebungsversuch zwecklos. Für alle, die sich in der Biologie nicht so gut auskennen: Der Dodo war ein großer, flugunfähiger Vogel, verwandt mit den Tauben  und heimisch auf Mauritius.  Er gilt auch als das erste dokumentierte Beispiel für das vom Menschen verursachte Artensterben. Denn auf der menschenleeren Insel musste der Vogel mit den Stummelflügeln keine Jäger fürchten. Bis dann niederländische Seeleute auf der Insel landeten und erfreut  über den so offensichtlich fleischreichen Vogel waren, der  bei ihrem Anblick nicht etwa floh, sondern  neugierig auf sie zuwatschelte. Der Rest ist gewissermaßen Geschichte. Innerhalb weniger Jahrzehnte gab es keinen Dodo mehr, nirgends. Dead as a Dodo eben.

In Jean-Marie Le Clézios Roman "Alma" kommt immer wieder die Sprache auf den Dodo. Der Nobelpreisträger mit Wurzeln auf Mauritius  kehrt mit gleich zwei Erzählern auf die Insel zurück, von denen der eine nicht nur den Spitznamen Dodo hat, sie sind auch die letzten ihrer jeweiligen Familie. Wenn sie nicht mehr sind, sind auch die Felsens "dead as a dodo"...

Le Clézio hat ziemlich viel gepackt in seinen fast 360 Seiten umfassenden Roman - Zivilisationskritik, Rückblick auf Kolonialismus und Sklavenhandel, Umweltzerstörung und die Suche nach den eigenen Wurzeln. Mitunter wird all das ein wenig zusammenhanglos miteinander verwoben, bei manchen Figuren, die erst eingeführt werden, zwischendurch wieder auftauchen und dann plötzlich verschwunden sind, wird nicht immer klar, welche Rolle sie im Gesamtumfang der Erzählung eigentlich spielen sollen.

Der Franzose Jeremie, der nach dem Tod seines Vaters den Beschluss fast, die väterlichen Familienwurzeln zu suchen, kommt als ein Fremder nach Mauritius.  Wie viele Touristen erkundet er die Insel, besonders fasziniert von der Geschichte des Dodo. Für Jeremie mag Mauritius eine unbekannte Größe sein, doch seine Vorfahren waren einst wohlhabende Plantagenbesitzer,  eng verwoben mit der Besiedlung der Insel zur Kolonialisten. War es der Ekel über die mit der Sklaverei verwobene Geschichte der Familie, die Jeremies Vater dazu brachte, nie über seine Heimat zu reden?`

Dominique, genannt Dodo, teilt mit Jeremie den Nachnamen Felsen, doch das ist schon das Ende der Gemeinsamkeiten. Sein Vater und Großvater gehörten dem Zweig der Familie an, mit dem die anderen Felsens nichts zu tun haben wollten - dass dabei auch Rassismus eine Rolle spielte, wird lediglich angedeutet.  Denn während die europäischstämmigen Kolonialfamilien  untereinander heirateten oder ihre Ehepartner in der alten Heimat oder anderen Kolonie fanden, heiratete Dodos Großvater eine (einheimische) Frau aus Reunion, der Vater eine Kreolin.

Doch es ist nicht nur die Hautfarbe, Dodo in der Verwandtschaft isoliert - sein Gesicht ist von einer Krankheit zerfressen, das macht ihn zum Ausgestoßenen. Dodo ist ein Obdachloser, der auf dem Friedhof in der Nähe der Familiengräber schläft, der nicht bettelt, sondern zufrieden ist mit dem, was man ihm gibt und in den Tag hinein lebt, mit seinen Erinnerungen, etwa an die Erzählungen seiner Amme über die Geister der Vergangenheit, die Afrikaner, die als Sklaven auf die Inseln verschleppt wurden und von denen einige in den Dschungel flüchteten und zu den berüchtigten "Maroons" wurden.

Jeremie stößt bei seinen Familienforschungen immer wieder auf den Namen Dodos, doch die beiden treffen sich nie - es bleibt sogar offen, ob sie überhaupt in der gleichen Zeit leben.  Denn Dodo wird im Rahmen einer Goodwill-Veranstaltung nach Frankreich geschickt, nach dem Motto: Alle Clochards werden Brüder.

Idylle und Grausamkeit liegen nahe beieinander in diesem Buch - im Naturparadies Mauritius stößt Jeremie auf minderjährige Prostituierte. Dodo wird von Jugendlichen brutal zusammengeschlagen.  Die Planierung des alten Familienlandes für ein Einkaufszentrum ist da irgendwie eine Fortsetzung des Menschenhandels der Vergangenheit und der Auslöschung des Dodo.  Und an den "fluchbeladenen Stränden", an denen einst die Sklaven an Land geschleppt wurden, entsteht eine exklusive Apartmentanlage.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: „Alma“
Kiepenheuer & Witsch, 2020
356 Seiten,  25 Euro
ISBN: 978-3-462-05226-8

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