Der Widerstand der Gelehrten - Die Bücherschmuggler von Timbuktu

Bei Charlie Englishs Buch "Die Bücherschmuggler von Timbuktu" kommen gleich mehrere Arten von Lesern auf ihre Kosten - die historisch oder geografisch Interessierten, die Anhänger einer gut erzählten "David gegen Goliath"-Geschichte und natürlich all jene, in deren Ohren schon der Klang des Ortsnamens Timbuktu magisch-verheißungsvoll klingt, ähnlich wie Sansibar, Samarkand oder Buchara. Um die Geschichte der sagenumwobenen Oasenstadt geht es auch, um Mythos und Realität, aber auch um den - lange Zeit ignoranten und selbstherrlichen - europäischen Blick auf Afrika, um die Macht von Worten und Wissen und um die Konflikte, die den Wüstenstaat Mali in der Gegenwart prägen.

Charlie English, lange Leiter des Auslandsressort des "Guardian", Mitglied der Royal Geographic Society  und seit seinem 19. Lebensjahr immer wieder unterwegs in Afrika, verwebt Geschichte und Geschichten, journalistisches Handwerk und Storytelling. Sein Buch über die Bücherschmuggler, jene Bibliothekare und Gelehrten aus Timbuktu, die während der Besetzung der Stadt durch Islamisten und Milizen das Kulturgut ihrer Stadt und ihres Landes schützten, die Bibliotheken und Schriften, die den eigentlichen geistigen Reichtum der Stadt ausmachten.

Entdecker und Eroberer hatten in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder vergeblich und oft mit tödlichem Ausgang den Weg nach Timbuktu gesucht. Die Handelsstadt zwischen Niger und Sahara sollte sagenhaften Reichtum enthalten. Dächer aus Gold, ein El Dorado in Afrika, so die Hoffnung derjenigen, die als erste ihren Fuß in die Stadt setzen wollen. Ein Teil des Buches behandelt die Geschichte dieses Mythos, der Expeditionen und auch des Blickes auf Afrika, das die europäischen Mächte als Spielball ihrer eigenen Interessen sahen.

Der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth, der als einer der ersten Europäer tatsächlich Timbuktu erreichte, fand dort eine ganz andere Art von Reichtum: Schriften und Chroniken, die von afrikanischen Königreichen berichteten, die Chronik einer afrikanischen Geschichte, Rechtssprechung, Diplomatie - Dokumentation all dessen, was den Afrikanern von den Europäern damals abgesprochen wurde. Afrika hatte sozusagen tabula rasa zu sein - ein geschichtsloser Kontinent,  dem erst die Weißen ihren Stempel aufdrückten. Die Manuskripte von Timbuktu waren der Gegenbeweis.

Vielleicht ist gerade dieser Exkurs in die Vergangenheit wichtig, um zu erklären, warum die Bibliotheken von Timbuktu, die auch in den alteingesessenen Familien von Generation zu Generation weitergegebenen Schriftrollen, den Bibliothekaren der Gegenwart so viel bedeuteten, dass sie den Islamisten trotzten und große Risiken auf sich nahmen. Denn so spannend es ist, über die Forschungsreisen und ihre teils exzentrischen, meist aber wagemutigen Persönlichkeiten zu lesen, ist es doch der stille Widerstand der Gelehrten, der hier fasziniert.

 So wie einst die "Entdecker" afrikanische Reiche auslöschten, ihre Kultur und Tradition negierten und die Menschen, die sie vorfanden, als Rohstoff ansahen,  versuchten auch die Kämpfer von AQUIM die Geschichte Timbuktus und des Nordens von Mali zu überschreiben - mit der Einführung der Scharia, mit der Zerstörung der Mausoleen, mit der brutalen Unterdrückung all dessen, was sie als haram, als unrein und unislamisch ansahen. Dass die alten Manuskripte als nächstes auf der Liste stehen könnten, ließ die Bibliothekare zu Bücherschmugglern werden: Die Manuskripte wurden zunächst in Privathäusern versteckt, schließlich durch die Wüste oder über den Fluss in die Hauptstadt Bamako geschmuggelt.

Eine solche Widerstandsorganisation erinnert ein bißchen an "Oneg Szabat" um Emanuel Ringelblum, den Archivar des Warschauer Ghettos: Völlig unmartialische Menschen, die nicht mit dem Gewehr kämpfen, sondern um den Erhalt von Wissen, die inmitten der Zerstörung und Gewalt noch dokumentieren.

Die Geschichte des Schmuggels, der zeitweise als Wettlauf gegen die Zeit erscheint, liest sich spannend wie ein Krimi - auch wenn am Ende Fragen aufkommen über die tatsächliche Zahl der Dokumente, über mögliche Übertreibungen oder wie groß die Gefahr für die Dokumente überhaupt je war. "Jeder hat seine eigene Version", sagt einer der Protagonisten, als er mit diesen Fragen konfrontiert wird. Gab es persönliche Bereicherungen, wurden Zahlen übertrieben, um ausländische Spendengelder locker zu machen? Manche Fragen bleiben unbeantwortet. Aber den Spirit, Bücher vor der Vernichtung zu bewahren, wird jeder Bücherfreund zu schätzen wissen. Klare Leseempfehlung.

Charlie English, Die Bücherschmuggler von Timbuktu
Hoffmann & Campe, 2018
432 Seiten, 24 Euro
978-3-455-50372-2

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