Rassismus-Erfahrungen: Nach der Flut das Feuer

Der Brief James Baldwins an seinen 14-jährigen Neffen klingt, als sei er im Jahr 2020 oder 2014 geschrieben, nicht im Jahr 1963, vor mehr als einem halben Jahrhundert: "Ich weiß, wie düster es heute für dich aussieht", heißt es darin. "Du wurdest geboren, wo du geboren wurdest, mit Zukunftsaussichten, die deine Aussichten waren, weil du schwarz bist - aus keinem anderen Grund. Deinem Streben sollten für alle Zeit Grenzen gesetzt werden. Du bist in eine Gesellschaft hineingeboren, die Dir mit brutaler Offenheit und auf vielfältigste Weise zu verstehen gibt, dass Du ein wertloser Mensch bist."

Nein, in dem Essayband "Nach der Flut das Feuer" versucht der afroamerikanische Schriftsteller nicht, den Jugendlichen James klein zu halten. Seine Worte sind mit Liebe geschrieben, wie er betont, nicht mit Geringschätzung. Doch die Hautfarbe des Jungen definiert Chancen und Möglichkeiten, wie schon bei den Generationen vor ihm. Ein wenig erinnert das an "the talk", das Gespräch, das schwarze afrikanische Eltern in den USA besonders mit ihren Söhnen führen, wenn sie der Kindheit entwachsen,  wenn ihre Hautfarbe im Fall einer Polizeikontrolle oder einfach nur ihre Anwesenheit zur falschen Zeit am falschen Ort tödliche Konsequenzen haben kann - wie bei all jenen afroamerikanischen Männern, deren Namen in den vergangenen Jahren durch die Welt gingen, so wie zuletzt George Floyd.

Manches, vieles, hat sich geändert in dem halben Jahrhundert, seit Baldwin seinen Essayband schrieb. Die Bürgerrechtsbewegung erkämpfte wichtige Erfolge. Die Segregationsgesetze gibt es nicht mehr. Die USA hatten ihren ersten schwarzen Präsidenten. Harlem, für Baldwin noch der Ort, der von Zuhältern und Prostitution, von Kriminalität und Drogen geprägt war,  ist für viele Afroamerikaner heute ein Ort schwarzer Kultur, ein Ort des Stolzes auf die eigene Identität. Doch Trayvon Martin, Michael Brown oder George Floyd stehen  für die immer wieder dokumentierte Tatsache, dass Afroamerikaner häufiger als Hispanics oder Weiße von der Polizei erschossen, dass sie bei Straftaten härter verurteilt werden und häufiger von der Polizei kontrolliert werden.

Racial profiling, das ist nicht nur in den USA ein Thema, ebenso wenig struktureller Rassismus. Und er muss sich nicht gegen schwarze Menschen richten, sondern kann genauso andere Minderheiten betreffen. Gerade deshalb ist es gut und wichtig, dass Baldwins Text aus den 60-er Jahren nun eine Neuauflage erlebt hat. Die Fragen, die Baldwin damals aufwarf, haben Gültigkeit. Was machen Rassismus-Erfahrungen mit einem Menschen. gerade mit einem jungen? Wie umgehen mit denen, die ignorieren oder verdrängen, dass einem Teil der eigenen Bevölkerung Chancen und Zukunft verweigert werden? Wie aber auch umgehen mit denen aus der anderen Gruppe, die mit Hass und Militanz reagieren, die umgekehrt von "weißen Teufeln" reden wie die Black Muslims, die Baldwin in den 60-er Jahren kennenlernte?

Der schmale Essayband enthält Einsichten, die Gültigkeit behalten und zum Nachdenken anregen.

James Baldwin, Nach der Flut das Feuer
dtv 2019
ca 120 Seiten,
978-3-423-28181-2 

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