Väter, Geheimnisse und gefährliche Freundschaften - Boomerang


John Dyer, die Hauptperson  in Nicholas Shakespeare´s Thriller „Boomerang“ ist ein Antiheld – ein alleinerziehender Vater in der Universitätsstadt Oxford, ehemaliger Südamerika-Korrespondent, dessen Job den Sparmaßnahmen der Medienbranche zum Opfer fiel. Mittlerweile forscht er an einem eher exotischen Thema der frühen brasilianischen Kolonialgeschichte – seine journalistischen Instinkte allerdings sind nach wie vor lebendig.

Allerdings ist es nicht die Neugier des alten Reporters, die Dyer mit dem iranischen Physiker Rustum Marvar zusammenbringt. Marvars Sohn spielt wie Dyers Sohn Leandro in der Fußballmannschaft der mittlerweile sehr exclusiven Privatschule Phoenix, die auch Dyer einst besuchte. Viel zu spät haben die beiden Männer erfahren, dass ihre Kinder von einem älteren Jungen gemobbt wurden – es ist diese Erfahrung, die sie zusammenbringt, ebenso wie die Tatsache, dass sie beide alleine mit ihren Söhnen sind.

Ein Abend, an dem Marvar Dyer sein Herz ausschüttet, ändert dann alles. Denn Marvar, der unauffällige, dickliche Wissenschaftler, hat eine Entdeckung gemacht, hinter der Geheimdienste, Regierungen und Finanzkreise gleichermaßen her sind: eine neue Methode der Kernfusion, so einfach, dass die Formel auf einem Pos-It-Zettel Platz hat. Doch Marvar steckt unter schwerstem Druck – den britischen Geheimdiensten ist er angesichts des iranischen Atomprogramms von Anfang an suspekt gewesen. Die iranischen Behörden hingegen können ihn jederzeit erpressen, da seine Frau und die neugeborene Tochter nicht ausreisen durften. Er befürchtet, seine Frau sei festgenommen, gefoltert und vergewaltigt worden. Er will weder ihr Leben riskieren, noch die Formel den Mullahs aushändigen.

Am Morgen danach sind Marvar und sein Sohn verschwunden – ob sie sich abgesetzt haben, ob sie entführt worden sind – nicht nur Dyer rätselt.  Doch mit dem Verschwinden Marvars richtet sich die Aufmerksamkeit auf Dyer, den letzten, den Marvar aufgesucht hat. Die Jagd auf die Formel, von der wenige wissen und viele ahnen,  könnte auch das Leben seines Sohnes in Gefahr bringen. Eine kryptische Nachricht Marvars bringt Dyer an den Post it-Zettel mit der Formel – und damit in eine moralisches Dilemma: Soll er die Formel zerstören, damit damit sie nicht in falsche Hände fällt und damit ungeahnte Konsequenzen für sein und Leandros Leben heraufbeschwören – oder soll er dem Druck nachgeben und die Formel herausrücken? Und wenn ja, wem soll er sie geben, wessen Rache könnte eine Entscheidung zur Folge haben?

Zugegeben, nach der Offenbarung Marvars hatte ich an einen Spionagethriller ein wenig im Stil eines John le Carré gedacht. Schließlich spielt die Handlung in der Universitätsstadt, an deren Colleges britische und rivalisierende Geheimdienste schon vor Jahrzehnten ihren Nachwuchs rekrutierten.  Doch über einen großen Teil des Buches herrscht eine geradezu philosophische Nachdenklichkeit, das Zögern und Ringen Dyers um die richtige Entscheidung, um seine Verantwortung, aber auch um den Wunsch nach einem leichten Ausweg, der ihm und seinem Sohn ein normales Leben verspricht. Die Lösung seines Dilemmas, so viel sei verraten, ist überraschend und lange unerwartet, dann aber recht schlüssig.

Zugleich ist Boomerang eine Abrechnung mit einer Welt, in der Werte und Wissen weitaus weniger gelten als Macht und Geld. Die Privatschule ist nur eines der Symbole dafür: Früher der Start mit einer guten Bildung für Mittelstandskinder wie Dyer, heute für ihn nur finanzierbar dank des Erbes seiner Tante: Leandro ist dort weitgehend unter Kindern der internationalen Elite, für die Leibwächter ebenso selbstverständlich sind wie ein Wochenendflug zu den Eltern nach Hongkong oder St Petersburg. 

Nicholas Shakespeare: „Boomerang“
Hoffmann & Campe, Hamburg 2020
398 Seiten, 25 Euro
978-3-455-00881-4

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