Familienroman aus dem hohen Norden - Vaters Wort und Mutters Liebe

Die Beziehungen zwischen Geschwistern, das weiß jeder, der kein Einzelkind ist, ist etwas Besonderes. Ganz egal, wie konfliktreich, wie sehr man sich streitet, um die Aufmerksamkeit der Eltern konkurriert, Futterneid entwickelt - am Ende sind die Geschwister, die uns besser kennen, als so ziemlich jeder andere Mensch, oder wissen, wie wir zu denen wurden, die wir sind. In Nina Wähäs Familienroman "Vaters Mord und Mutters Liebe" geht es um besonders viele dieser Geschwisterbeziehungen, denn immerhin umfasst die Familie Toimi 12 überlebende Geschwister, insgesamt hat Mutter Siri 14 Kinder geboren.  Eine Bauernfamilie im Norden Finnlands, mit der sanften, duldsamen Mutter Siri und Vater Pentti, der mit seinem zornigen Wesen, seiner Unfähigkeit Liebe zu zeigen, seiner Härte nicht nur der Familientyrann ist, sondern auch immer abseits zu stehen scheint.

Wähä, eigentlichlich Schauspielerin, inszeniert ihren vielschichtigen Familienroman ein bißchen wie ein elisabethanisches Bühnenstück oder einen Moritatenerzählung mit dem allwissenden Erzähler am Anfang jedes Kapitels, in den nächsten Akt, das nächste Bild einführend. Am Ende, so heißt es schon frühzeitig, steht ein Mord. Oder vielleicht auch nicht. Aber passieren werde was. Demnächst jedenfalls.

Denn die Autorin nimmt sich viel Zeit, um in die Familie, die Geschwisterkonstellationen, die Familiengeschichte einzuführen. Eigentlich ist fast jedes Kapitel ganz besonders einem der Geschwister gewidmet, erlaubt dem Leser, über die Schultern der Großfamilie zu schauen, von Anfang an, wenn Anni, die älteste Tochter, von Stockholm in den hohen Norden reist. Nicht nur, um der Familie von ihrer Schwangerschaft zu berichten, sondern vor allem, um Bewegung ins Spiel zu bringen.

Die  junge Frau, die so schnell wie möglich den heimischen Bauernhof verlassen hat, um ihr eigenes Leben zu führen, versucht nun einen ähnlichen Befreiungsschlag für die Mutter. Auch mit 56 Jahren soll es für sie noch nicht zu spät sein, ein anderes Leben als das in der lieblosen Ehe zu führen. Und die jüngsten Geschwister, vier und acht Jahre alt, sollen anders aufwachsen,  als Anni und die anderen der älteren Kinder.  Erst überzeugt sie ihre Geschwister, dann konfrontiert der Geschwisterrat Siri: Sie soll sich scheiden lassen,noch einmal einen Neubeginn wagen. Klar, dass Pentti das überhaupt nicht komisch findet.

Wähä schildert diese Familiengeschichte sowohl episch als auch als Mikrokosmos,  viele kleine Porträts, das Ganze eingebettet in die Geschichte Kareliens von den Dreißiger bis zu den Achtziger Jahren. Auch die Geschwisterfront ist keineswegs geschlossen, es gibt Einzelinteressen, auch Egoismen und keineswegs jedes der Kinder ist ein Sympathieträger. Es geht um die schwierigen Jahre der Pubertät, Selbstentdeckung und Selbstverleugnung, die Suche nach Chancen und das Akzeptieren von Schicksal, um Liebe und Entfremdung.

Nicht zuletzt nimmt das Buch seine Leser mit in eine ziemlich archaische, isolierte Gesellschaft - es gibt zwar Nachbarn und eine Kleinstadt in der Nähe, doch all das bleibt ziemlich vage, Und auch die Familienidee erinnert eher an das 19. Jahrhundert als an die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist wirklich eine Welt, die ganz weit entfernt ist von vielen heutigen Familien, in denen Kinder teils überbehütet, teils maßlos mit Materiellem überhäuft werden. Die große Familie entspricht weniger dem Wunsch, als der Notwendigkeit, sind die Kinder doch kostenlose Arbeitskräfte im Stall und auf dem Feld. Nein, romantisch ist dieses Landleben überhaupt nicht,, aber trotz eines Endes, das dann doch noch ein paar Fragen offen ließ, ein praller Roman voller Leben.


Nina Wähä, Vaters Wort und Mutters Liebe
Heyne, 2020
543 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-453-27287-3



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