Krieg als Katalysator für weibliche Selbstermächtigung - "Der Schattenkönig"

 Bei militärischen Konflikten aus den 1930-er und 40-er Jahren denken die meisten von uns vermutlich als erstes an den Zweiten Weltkrieg. Nicht so Maaza Mengiste, die Autorin des historischen Romans "Der Schattenkönig". Kein Wunder - die Invasion von Truppen aus dem faschistischen Italien in Äthiopien, dem einzigen nicht von Kolonialismus betroffenen Landes in Afrika, stellte eine Zäsur in dem Land am Horn von Afrika dar. 

Mengiste war noch ein Kind im Vorschulalter, als ihre Familie aus Äthiopien floh vor dem damaligen Regime, heute lebt sie in New York.  Beim Lesen des Romans, an dem Mengiste zehn Jahre lang arbeitete, wird klar, dass die Geschichte ihres Heimatlandes sie auch im Exil beschäftigte. Doch "der Schattenkönig" ist mehr als ein Roman über einen Krieg, denn vor allem verdeutlicht er Sozialstrukturen und Genderrollen, eine Welt, in der Männer Herrscher sind und starke Frauen sich eine Nische erkämpfen müssen, wenn sie sich nicht mit der zugeschriebenen Rolle begnügen wollen.

Die beiden Protagonistinnen Aster und Hirut verkörpern das auf unterschiedliche Weise. Denn in der Feudalgesellschaft des alten Äthiopien steht Aster zur Aristokratie, hat Bildung genossen, ist stolz auf ihren sozialen Status. Doch die Geburt in eine sozial hoch stehende Familie hat sie nicht davor bewahrt, schon als junges Mädchen standesgemäß verheiratet zu werden, ihre Ehe begann mit einer Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht. Doch Aster ist nicht mehr das verängstigte Mädchen von damals.

Das Dienstmädchen Hirut wiederum, früh verwaist, ist in die Armut hineingeboren, konnte nicht zur Schule gehen und wird von Aster wie eine Leibeigene behandelt. Dennoch zeigt Hirut Selbstbewusstsein, wenn sie immer wieder die Herausgabe des alten Gewehr fordert, dass das einzige Erbe ist, das sie von ihrem Vater hat, und das Asters Mann ihr weggenommen hat, um die äthiopischen Truppen zu bewaffnen.

Während der Kaiser Haile Selassie angesichts militärischer Erfolge der Italiener ins Exil geht, wird der Krieg für Aster zu einem Akt der Selbstbefreiung und der Selbstermächtigung. Denn Aster zieht Männerkleidung an und beginnt, Frauen für den Kampf zu rekrutieren - gegen den Widerstand der Männer. Auch Hirut will unter Beweis stellen, dass sie den Männern an Mut und Kampfgeist nicht nachsteht. Ironischerweise ist auch der wichtigste Spion der Äthiopier eine Frau. Doch es ist ausgerechnet Hirut, die den Mut der nach der Flucht Haile Selassies verzagten Äthiopier wieder anzufachen, indem sie einen einfachen Bauern überzeugt, angesichts seiner überraschenden Ähnlichkeit mit dem Kaiser den "Schattenkönig" zu mimen.

Als Gegenspieler der kämpfenden Äthiopier zeichnet Mengiste einen italienischen Offizier, der mit dem Beinamen "Schlächter von Bengasi" nach Äthiopien kommt und auch dort durch Gräueltaten und Kriegsverbrechen berüchtigt word. Verständnisvoll zeigt er sich nur im Umgang mit dem Offizier, der als Fotograf den Krieg dokumentieren soll. Seine Fotos sind für den Offizier Kriegstrophäen, die er mit den Statuen der alten Römer vergleicht. 

Die Kriegsschilderungen sind nichts für zarte Gemüter. Als Aster und Hirut nach einem riskanten Einsatz in Gefangenschaft geraten, sind sie vor allem als Frauen und nicht als Kombattantinnen Misshandlungen ausgeliefert. Zugleich muss sich der Fotograf mit der Erkenntnis auseinandersetzen, dass seine Eltern, die nie über Religion oder Herkunft gesprochen haben, Juden sind - ein Umstand, der selbst im fernen Afrika seine Existenz bedroht. Der Übergang von Tätern und Opfern ist mitunter fließend.

Faschismus, Sexismus, Feudalismus - Mengiste vereint in ihrem Buch den großen historischen Wurf mit berührenden Geschichten über einfache Menschem und ihren Schicksalen. Es sind vor allem die Frauenfiguren, die ihr Buch nachhaltig prägen, aber auch die Bauern, die von ihren Feldern in den Krieg ziehen müssen.  Eingebettet ist die während der italienischen Invasion spielende Kernhandlung in eine Rahmenhandlung während der "roten Revolution" in Äthiopien, in der die alt gewordene Hirut noch einmal die Begegnung mit einem einstigen Gegner hinter sich bringen muss, um endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen. 

Auch wenn "der Schattenkönig" für die meisten Leser viel Unbekanntes beinhalten mag, lohnt sich die Annäherung an ein schwieriges Thema. Denn Mengiste beeindruckt  mit diesem Buch, das Fragen aufwirft nach denjenigen, die keinen Platz in den Geschichtsbüchern finden und die doch zu den Gestaltern des eigenen Schicksals werden wollen. Sie habe die Leerstellen des offiziellen Narrativs füllen wollen, sagte sie, als ich kürzlich Gelegenheit hatte, mit ihr über das Buch zu sprechen. Denn die Geschichten über den Krieg, den sie etwa aus den Erzählungen der Frauen ihrer Familie kannte, hatten in den offiziellen Darstellungen bisher keinen Platz. Mit ihrem Buch, das sich zu Recht auf der Shortlist des Booker-Preises befand, will sie das ändern.


Maaza  Mengiste, Der Schattenkönig

dtv 2021

576 Seiten, 25 Euro

978-3-423-28292-5


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