Kulturclash und Familiengeheimnisse - Liebesheirat

 Yasmin und Joe haben einiges gemeinsam: Beide sind junge Ärzte kurz vor dem Ende ihrer Facharztausbildung, beide leben noch zu Hause - London ist schließlich teuer. Doch während Joes Mutter eine Angehörige der britischen Oberschicht ist, bestens vernetzt und feministische Autorin  von Büchern, in denen auch schon mal entblößte Penisse zu sehen sind, sind Yasmins aus südasien stammende muslimische Eltern  deutlich weniger freizeügig. Insbesondere die stark religiöse Mutter ist eher prüde. Bei Küssen im TV wird der Kanal gewechselt. Während Yasmin und Joe den nächsten Schritt zu einem gemeinsamen Leben machen wollen, sollen sich die Yasmins Eltern und Joes Mutter erstmal kennenlernen - kann das gutegehen?

Doch das Familiendinner am Beginn von Monica Alis  "Liebesheirat" ist nicht die letzte Herausforderung, nicht nur für die beiden Liebenden. In gewisser Weise ist die Begegnung allerdings ein Katalysator, der eine ungeahnte Kettenreaktion auslöst. Familiengeheimnisse auf beiden Seiten, unerwartete Freunschaften, der Umgang mit kulturellen Unterschieden, Traditionen und Bildern von Familie - Yasmin und Joe sind zu einem ganz neuen Blick auf die jeweils eigene Familie und auf ihre Zukunft als Paar gezwungen.

Daneben zeichnet "Liebesheirat" auch ein Porträt der modernen Migrationsgesellschaft mit ihren unterschiedlichen Facetten. Yasmin sieht sich vor allem als britisch an, ihre beste Freundin hingegen ist bei allen feministischen Einstellungen und einer Karriere als Anwältin für Arbeits und Einwanderungsrecht eine Verfechterin von modest fashion und halal dating. Yasmins jüngerer Bruder liebäugelt mit islamischer Identität und Aktivismus, ohne wirklich mit der Religion vertraut zu sein. Als seine englische Freundin von ihm schwanger wird, empört dies ausgerechnet Yasmins Vater, der eigentlich der "moderne" Elternteil ist und ebenfalls Arzt. Doch dass sein Sohn ein Mädchen aus einer Sozialwohnung geschwängert hat, löst hier wohl einen sozialen Snobismus aus.

Das ist aber nicht die einzige Krise, während sich Joes und Yasmins Mütter überraschend gut verstehen, gleichzeitig Familien und Paare auseinanderdriften und sich auch Joe und Yasmin  Fragen über ihr Verhältnis zu Liebe, Sexualität und Partnerschaft stellen müssen. So manche Gewissheit, die zu Beginn des Buches ganz klar schien, wird im Verlauf der Erzählug ins Wanken geraten.  Ali schaut genau hin, hinterfragt ihre Figuren, lässt sie gewissermaßen immer menschlicher wirken. Scheitern kann auch befreiend sein, das ist eine der Lehren dieses Gegenwartromans, der sowohl Liebes- als auch generationsübergreifende Familiengeschichte ist und mit scheinbar vertrauten Vorstellungen gründlich aufräumt. Dabei bleibt der Roman trotz schwieriger Themen unterhaltsam und heiter. Auch bei knapp 600 Seiten kommt  nicht das Gefühl auf, hier sei die Handlung aufgeblasen worden. Klare Leseempfehlung.

Monica Ali, Liebesheirat

Klett Cotta 2022

592  Seiten, 25 Euro

978-3-608-98498-9

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