Zwangsehe und Kampf um Liebe im ländlichen Indien vor 100 Jahren

 Punjab im Jahr 1929 - in der britischen Kolonie Indien gärt es, die Unabhängigkeitsbewegung sucht nach Freiheitskämpfern, doch auch das Miteinander von Muslimen, Hindus und Sikhs ist nicht konfliktfrei. Vieles bleibt hingegen ganz traditionell, arrangierte Ehen etwa. Die junge Mehar wurde bereits im Alter von fünf Jahren verlobt, zehn Jahre später steht Hochzeit an. Wir würden heute von der Zwangsverheiratung eines Kindes sprechen. 

In seinem Roman "Das Porzellanzimmer" verarbeitet der britische Schriftsteller Sunjeev Sahota, dessen Vorfahren aus dem Punjab stammen,  ein Stück indischer Kolonialgeschichte, aber auch Erfahrungen des Aufwachsens als Kind der südasiatischen Minderheit in der weißen und oft feindseligen Mehrheitsgesemmschaft.

Wie wenig im Punjab des frühen 20. Jahrhunderts beim Thema Heirat  irgendwelche Gefühle eine Rolle spielen, wird schon daraus ersichtlich, dass Mehars Schwiegermutter Mai alle ihre drei Söhne am gleichen Tag verheiratet - so lässt sich sparen. Und bis zuletzt bleibt Mehar und den anderen jungen Bräuten unklar, mit welchem der Brüder sie eigentlich verheiratet sind. Selbst am Tag der Hochzeit haben sie ihm, traditionell eng verschleiert, nicht ins Gesicht sehen können - und der eheliche Beischlaf wird wechselweise in einer Kammer des Hofs im Dunkeln vollzogen, meist wortlos und insbesondere für die jungen Ehefrauen auch freudlos. 

Tagsüber müssen die jungen Frauen kochen, waschen oder auf dem Feld arbeiten, die Nächte verbingen sie gemeinsam im sogenannten  Porzellanzimmer, wenn sie nicht an der Reihe für Pflicht-Sex mit dem Ehemann sind - es gilt schließlich, mit einem Sohn schwanger zu werden. 

So ist es möglicherweise kein Wunder, dass Mehar einem Irrtum unterliegt, als sie in einem der drei Brüder ihren Ehemann zu erkennen glaubt und sich in ihn verliebt.  

Eine Beziehung mit Folgen, die ihr Urenkel, der Ich-Erzähler eines zweiten, in der Gegenwart angesiedelten Erzählstrangs, nach und nach entdeckt. Der junge, in Großbritannien geborene und aufgewachsene Mann erlebt im Land seiner Vorfahren einen Kulturclash. Hier sieht es zwar aus wie die Menschen vor Ort, gilt ihnen aber als Engländer. Als seine eigenen Eltern in ein weißes Viertel zogen, in dem sie ihren Laden führten, wurden sie wiederum rassistisch angefeindet. Der junge Mann kommt nicht aus romantischen Gründen nach Indien, sondern hofft hier den Entzug aus seiner Heroinabhängigkeit zu schaffen, freundet sich mit einer Ärztin und einem Lehrer an und geht der Geschichte seiner Familie auf den Grund.

Während der kalte Entzug durchaus eindrücklich geschildert wird, wirkt dieser Teil des Buches etwas aus dem Zusammenhang gerissen und wäre meiner Meinung nach besser als Thema eines eigenen Romans geeignet gewesen. Die Geschichte von Mehar, die so vielen Zwängen ausgesetzt ist und trotzdem eine starke, eigenständige Persönlichkeit, reicht eigentlich völlig aus und hat mich voll überzeugt. Als Sittenbild einer Vergangenheit, die mancherorts noch Wirklichkeit für Frauen und Mädchen ist, hat mich das "Porzellanzimmer" beeindruckt. Das Buch ist so intensiv geschrieben, dass die Farben und Gerüche des kleinen Dorfs im Punjab beim Lesen erfahrbar werden.


Sunjeev Sahota, Das Porzellanzimmer

Hanser 2023

240 Seiten, 23 Euro

 978-3-446-27388-7

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Slow Horses im Schneegestöber - Mick Herron glänzt erneut

Kinderwunsch - aber koscher!

Das Leben kommt immer dazwischen