Überlebenskampf in der neuseeländischen Wildnis

 Die privilegierte Kindheit dreier Geschwister einer englischen Managerfamilie findet ein jähes Ende, als die Eltern während eines Neusseeland-Urlaubs  mit ihnen im Auto veruglücken. Der Wagen der Familie stürzt über eine Klippe in einen Fluss, der siebenjährige Tommy, die zwölfjährige Katherine und der 14-jährige Maurice überleben als einzige. 

Ein Handy gibt es zum Unfallzeitpunkt im Jahr 1978 nicht - und vorerst vermisst niemand die Familie, die ihre Zelte in England abzubrechen und nach Neuseeland zu ziehen, wo der Vater aber erst in zehn Tagen an seiner neuen Arbeitsstelle erwartet wird. Bis dahin, das ist Maurice und Katherine schnell klar, wird niemand sie vermissen oder suchen. Um in der Wildnis zu überleben, sind sie ganz auf sich gestellt - und gründlich überfordert mit der Situation.

Das ist die dramatische Ausgangssituation von Carl Nixons Roman "Kerbholz". Im folgenden zeichnet sich dieser Roman allerdings weniger durch Action aus, als durch psychologische Spannung und einen Einblick in die Psyche der Figuren. Loyalität, Verbundenheit, Vertrauen, Entschlossenheit, Familienbande und Wahlfamilien, das sind nur einige der Themen dieses Buches, wobei Überleben und das Preis, das dafür gezahlt wird, ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.

Nixon erzählt die Handlung nicht linear und offenbart den Lesern frühzeitig, dass es zumindest nicht für alle der Kinder einen guten Ausgang geben wird: In der Gegenwart wird eine alte Frau in Großbritannien von der neuseeländischen Botschaft kontaktiert. Menschliche Überreste seien als die ihres Neffen identifiziert worden, zusammen mit anderen Fundstücken, unter anderem der Uhr ihres seit Jahrzehnten vermissten Schwagers.

Susan, die Tante der drei Kinder, hat nach dem Verschwinden von Schwester und Schwager, als sich erst nach und nach offenbarte, dass die Familie nicht in ihrem neuen Heim angekommen war, jahrelang nach den Vermissten gesucht. Ist der Knochenfund nun der Abschluss?

Während Nixon die Geschichte der Kinder von hinten nach vorne erzählt, von den Outlaws, die die Kinder zufällig finden und sowohl retten als auch als Arbeitskräfte missbrauchen, folgen die Leser Susan aus der Gegenwart in die Vergangenheit, auf ihre Recherchen nach dem Verbleib von Nichte und Neffen. Wann hörte die Suche auf, ist sie den Kindern jemals näher gekommen? der Knochenfund in Neuseeland wirft neue Fragen auf, denn er stammt von einem 17 bis 18 Jahre jungen Mann. Wie lange haben die Kinder überlebt? Wird Susan noch einmal am anderen Ende der Welt nach Antworten suchen?

Bei aller Dramatik setzt Nixon in seinem Buch nicht auf Nervenkitzel, sondern auf die vielschichtigen Verbindungen seiner Protagonisten, ein kompliziertes und ambivalentes Beziehungsgeflecht, auf die Veränderungen, die Menschen durchmachen, wenn sie völlig außerhalb ihres gewohnten Lebens und seiner Werte gestoßen werden. Atmosphärisch dichte Schilderungen des Outbacks und seiner Bewohner, spröder und unsentimental, haben mich hier beeindruckt. Der Titel des Buches macht neugierig und erschließt sich im Laufe des Buches. Nixon ist ein Autor, den ich noch nicht kannte und der mich angenehm überrascht hat, vom furiosen Einstieg bis zum nachdenklich machenden Ende des Romans.


Carl Nixon, Kerbholz

Culturbooks 2023

304 Seiten, 24 Euro

9783959881562

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