Gipfeltreffen und Vermisstenfall

 Bill Clinton hat es getan, Ehefrau Hillary ebenfalls - und nun auch Katrin Jakobsdottir, die isländische Ministerpräsidentin: zusammen mit einem befreundeten Schriftsteller einen Kriminalroman geschrieben. Wobei im Fall von Jakobsdottir noch dazu kommt dass sie, im Gegensatz zu den Clintons, weiterhin amtierende Regierungschefin ist und nicht den Ruhestand zwischen Redeauftritten mit kreativem Schreiben würzt. Den Erstling "Reykjavik", der in den 1980-er Jahren während des Gipfeltreffens von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow spielt, hat Jakobsdottir mit dem befreundeten Schriftsteller Ragnar Jonasson geschrieben.

Es geht aber nicht etwa um den Kalten Krieg, sondern um einen Cold Case: Seit 30 Jahren ist die damals 15 Jahre alte Lara spurlos verschwunden. Sie arbeitete als Hausmädchen bei einem Ehepaar auf einer kleinen, nahezu menschenleeren Insel - und dann war sie plötzlich weg. Jugendliche Ausreißerin, Selbstmord oder ein Kriminalfall? Der seinerzeit unerfahrene Polizist, der den Fall untersuchte, macht sich noch Jahre später Vorwürfe, vielleicht nicht allen Hinweisen nachgegangen zu sein.

Doch es ist Valur, ein junger ehrgeiziger Reporter, der den Fall aufgreift und tatsächlich ein paar neue Hinweise erhält. Wird er der Wahrheit auf der Spur kommen nach all den Jahren - und angesichts des Schweigens derjenigen, die damals mit Lara zu tun hatten? Und wer ist die Frau, die ihm anonym eine Nachricht geschickt hat, die sich auf Laras Schicksal bezieht?

"Reykjavik" erzählt langsam, deckt ein Puzzlestück nach dem nächsten auf und schürt Zweifel, dass seinerzeit alles gesagt worden ist, was mit dem Mädchen zu tun hatte. Die Spannung wird langsam aufgebaut, hier geht es nicht um schnelle Nervenkicks, sondern um klassisches Rätseln wie in einem Agatha Christie-Roman.

Ein besonderer Reiz dieses Island-Krimis liegt für mich in dem Blick auf die 80-er Jahre, in denen Island sehr weit weg vom Rest Europas gelegen haben muss, nicht nur geografisch: Nur ein Fernsehsender, der zudem nicht rund um die Uhr berichtete, ein zweiter Radiosender, der gerade erst sein Programm aufnimmt, für moderne Musik gab es bis dahin nur AFN, den amerikanischen Militärsender. Das Buch zeichnet ein Bild eines sehr isolierten Inselstaates, in dem eigentlich fast jeder  jeden kennt, wo sich zumindest die Entscheider oft seit Jahrzehnten vernetzt haben und in ihren Machtpositionen gegenseitig stützen. "Reykjavik" mag kein großer Aufreger sein, ist aber ein solider klassischer Kriminalroman mit sympathischen Protagonisten, den ich gerne gelesen habe.

Ragnar Jonasson, Katrin Jakobsdottir, Reykjavik

btb 2023

352 Seiten, 23 Euro

   978-3-442-76259-0

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