Zukunftsszenarion mit Schwächen

 Auf ihrer Webseite weist die Autorin und Journalistin Gaia Vice gerne darauf hin, dass sie vielfach preisgekrönt ist. Ihr jüngstes Buch, "Das nomadische Jahrhundert" konnte mich allerdings nur bedingt überzeugen, auch wenn ich den Ansatz nachdenkenswert und spannend finde. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und Zukunftsszenarien ist die Erderwärmung infolge des Klimawandels, wobei sie den pessimistischen (aber sicherlich nicht unbegründeten) Theorien folgt, dass es nicht rechtzeitig gelingt, die Erderwärmung zu stoppen. Die Folgen in bereits wenigen Jahrzehnten führen danach zu Lebensbedingungen vor allem rund um den Äquator, die Landwirtschaft, aber auch ganz normales Leben unmöglich, zumindest aber unerträglich machen. Die Zahl der Klimaflüchtlinge werde massiv zunehmen.

In ihrem Buch argumentiert Vince zunächst, dass Migration seit jeher zur menschlichen Entwicklungsgeschichte gehört, gewissermaßen ein Prozess, der zu unser allem evolutionären Erbe gehört und positiv gesehen werden müsse, weil Migranten eine Gesellschaft mit neuen Impulsen und Ideen versorgen. Zudem gelte es, alte Ungerechtigkeiten zu beseitigen, wenn etwa die einen aufgrund ihres zufälligen Geburtsortes massive Vorteile und bessere Chancen hätten als andere, die eben das Pech hatten, in einem unterentwickelten, armen Land geboren zu sein. Also her mit einer Art Weltstaatsbürgerschaft, die das geraderückt, blühende Landschaften in Sibirien, in Grönland, näher zusammenrücken und die Alteingesessenen, insbesondere wenn sie wohlhabend sind, höher besteuern, damit zugleich den Neuankömmlingen die besten Chancen geschaffen werden.

Zudem setzt Vince auf eine ganze Reihe von Bestimmungen, Gesetzen, Neuregelungen - der freie Wille des Individuums scheint ihr eher vernachlässigenswert. Auch dass die Autorin beim Nachdenken über Energien ohne fossile Brennstoffe mit Verve auf Atomkraft setzt, ohne das Problem der Entsorgung, das Risiko von Unfällen und Verstrahlung auch nur zu erwähnen, stößt mir als alter Atomkraftgegnerin doch sehr auf. Auch dass staatliche bzw suprastaatliche Regelungen tief in das Leben der Bürger und ihre Art zu leben eingreifen sollen, will mir überhaupt nicht gefallen.

Nicht zuletzt ist es auch der Blick auf eine Migration im ganz großen Stil, von hunderten Millionen von Menschen, der mir recht naiv und wirklichkeitsfremd vorkommt. Ich bin wirklich die Letzte, die Migration verteufeln würde - sowohl in meiner Familienbiografie wie auch in meiner eigenen gehört freiwillige wie auch erzwungene Migration dazu, ich habe in verschiedenen Ländern gelebt und gearbeitet und die Begegnung mit völlig anderen Kulturen und Gesellschaften als ausgesprochen bereichernd erlebt.

Dennoch, für Menschen, die weder über die sprachlichen, noch beruflichen oder Bildungsvoraussetzungen verfügen, dürfte es schwer bis unmöglich sein, in einer hochkomplexen und fordernden Gesellschaft Fuß zu fassen. Zwar verweist Vince enthusiastisch auf das deutsche Beispiel bei der Aufnahme einer Million syrischer Flüchtlinge 2015 und das "Wir schaffen das" - aber da handelte es sich nur um eine Million Menschen,  die häufig über gute Bildungsvoraussetzungen verfügten - und machen wir uns nichts vor, die Willkommenskultur hielt nicht sonderlich lange an. Zu glauben, dass eine wie in dem Buch angedachte Migration ohne einen Backlash funktionieren kann, scheint mir angesichts der Erfahrungen mit Pegida und AfD, wie im dunklen Keller zu pfeifen.

Und selbst der Wohlmeinendste und Aufgeschlossenste dürfte spätestens dann abwinken, wenn aufgrund der Bestimmungen für die erfolgreiche Ansiedlung der Klimamigranten immer höhere Steuern, Abgaben und erzwungene Soli-Ausgleiche letztlich nur materiellen Verlust bedeuten. Welchen Anreiz sollte da jemand auch nur in bescheidenem Wohlstand lebende Mensch haben, sich noch irgendwie anzustrengen, wenn der Staat es anschließend ohnehin wegnimmt zur Finanzierung anderer Maßnahmen?

Auch berücksichtigt Vince kaum unterschiedliche Werte, kulturelle Codes, merkt nur an einer Stelle an, dass die zweite oder dritte Migrantengeneration viel aufgeschlossener sei als die ursprünglich Eingewanderten. Mit Blick auf Antisemitismus, aber auch Homophobie oder allgemeiner Queerfeindlichkeit oder Frauenbild bei einer nicht geringen Zahl von Angehörigen der zweiten, dritten oder vierten Generation in Deutschland lebender Menschen mit migrantischen Wurzeln, wie ich sie gerade in den vergangenen zwei Monaten auf deutschen Straßen erlebt habe, bin ich da zumindest mal skeptisch. 

Wird es bei einer wirklich sehr hohen Zahl von Migranten aus einem völlig anderen kulturellen Kontext zu einer Gefährdung mühsam erkämpfter Werte und Rechte für Frauen und Minderheiten bleiben, wenn Vinces Idee von einer Art Staat im Staat erfolgen sollte? Zumindest für die migrierten Frauen, queeren Menschen und andere, die in den Herkunftsländern marginalisiert werden? Bei allem Enthusiasmus für das bereichernde Element von Migration und kulturellem Austausch glaube ich, dass Vince hier die Lage ein wenig blauäugig einschätzt.

Für mich daher ein Zukunftsszenario mit Schwächen, aber dennoch ein Buch, auf das man sich einlassen sollte.

Gaia Vince, Das nomadische Jahrhundert. Wie die Klima-Migration unsere Welt verändern wird

Piper 2023

368 Seiten, 23,99 Euro

9783492604581

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