Das Leben kommt immer dazwischen

 Schon mit dem Titel "Joy" spielt Jonathan Lee in seinem ungewöhnlichen und sprachlich interessanten Roman mit den Erwartungen der Leser*innen. Denn Joy ist nicht nur der Name der Protagonistin, sondern bedeutet bekanntlich auch "Freude". Davon allerdings ist Joy, Top-Anwältin in einer Londoner City-Kanzlei weit entfernt. Zwar steht ihre Karriere nach zehn Jahren vor einem Höhepunkt - sie soll Partnerin werden, mit gerade mal 33 Jahren. Doch die Perspektive ist eher abschreckend. 

Joy ist schon lange frustriert von dem Alltag in der Kanzlei, ein typischer alte weiße Männer-Biotop. Ihre Ehe plätschert mittlerweile eher leidenschaftslos dahin, nach einer Tragödie ist das Verhältnis zu ihrer Schwester von Entfremdung geprägt. Joy will nicht mehr. Systematisch, wie sie ist, plant sie ihren Selbstmord. Doch das Leben kommt dazwischen. Zwar wird sie zwischen Leben und Tod schweben nach einem Sturz von einer Plattform, der irgendwie auch symbolisch für ihre Lebenskrise ist. Doch die Entscheidung zu einem letzten Schritt ist ihr damit aus der Hand genommen, während die Menschen in ihrem Umfeld sich zahlreichen Fragen stellen müssen.

Der Roman wechselt zwischen der Erzählperspektive, wie Joy den Tag verbringt, den sie als ihren letzten auserkoren hat, und den Monologen von Kollegen, Ehemann Dennis und anderen im Gespräch mit einem Psychologen, den die Firma zur Aufarbeitung der Geschehnisse bereitgestellt hat. In Staccatotempo und Endlossätzen wird abgeschweift und überlegt, mehr über das Umfeld als über Joy selbst verraten. Das mag gewöhnungsbedürftig sein, ist aber auch geprägt von Lust an Sprache. Gleichzeitig entlarven die Monologe das Klima in der Kanzlei, geheime Wünsche, die Risse unter dem perfekten Alltag. Dabei spielt der Autor wiederholt mit den Erwartungen seiner Leserschaft und sorgt am Ende für eine Überraschung, mit der ich nicht gerechnet hätte. 

Ein ungewöhnlicher und faszinierender Roman über Depression und Lebensfrust hinter scheinbar perfekter Kulisse.


Jonathan Lee, Joy

Diogenes 2024

384 Seiten, 25 Euro

9783257072426

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