Déja vu der Gefühle

  Als einzige Irin in einer italoamerikanischen Familie fühlt sich Eilis, vor 20 Jahren aus Irland in die USA eingewandert, manchmal fehl am Platze, ja von la Famiglia eingekesselt. Schließlich wohnt Ehemann Tony nicht nur Haus an Haus mit seinen Eltern, auch seine beiden Brüder mit ihren Familien sind unmittelbare Nachbarn in dem ruhigen Viertel in Long Island.

So richtig gerät Eilis´s Welt allerdings aus den Fugen, als ein aufgebrachter Mann vor ihrer Tür steht und ihr sagt, Tony habe seine Frau geschwängert. Das Kind würde er ihr "vor die Tür legen" , da er auf gar keinen Fall das Kind eines anderen aufziehen werde. Auch für Eilis steht fest: Mit diesem Kind will sie nichts zu tun haben, der Vertrauensbruch ihres Mannes ist schlimm genug. 

Monatelang wartet sie darauf, dass Tony das Problem anspricht - Fehlanzeige. Dann erfährt sie über Umwege, dass Tony ihr gegenüber beharrlich geschwiegen hat, im Familienkreis aber schon längst alles geregelt ist - seine Mutter Francesca wird das Kind aufziehen. Für Eilis ebenso undenkbar wie das Kind im eigenen Haushalt zu haben.

Eilis beschließt eine Vermeidungsstrategie - zum mutmaßlichen Geburtstermin wird sie nicht zu Hause sein. Ihre Mutter in Irland wird 80, Grund genug, nach 20 Jahren mal wieder einen längeren Aufenthalt in der alten Heimat zu planen. Und auch Rosella und Larry, ihre beiden Kinder, wollen in den Sommerferien nachkommen, um endlich ihre irische Granny kennenzulernen.

In Irland warten allerdings neue Komplikationen. Das Zusammenleben mit der Mutter, der klatschfreudige kleine Ort - das geht Eilis ziemlich schnell auf die Nerven. Und dann ist da noch Pubbetreiber Jim, für den sie vor 20 Jahren - damals bereits heimlich mit Tony verheiratet - Gefühle entwickelte und den sie tief verletzte, als sie seinerzeit ohne Abschied in die USA zurückkehrte. Was sie nicht weiß - ihre ehemals beste Freundin hat schon länger eine heimliche Beziehung mit Jim und plant eine Hochzeit. Doch tiefe Gefühle können auch nach 20 Jahren wachgerufen werden - und sowohl Eilis als auch Jim stehen vor der Frage, was sie eigentlich wollen.

Colm Toibin schildert in "Long Island" eine Liebe in reiferem Alter -  Gefühle werden nicht mehr alleine von Hormonen gesteuert, als Mutter von zwei Kindern und in einer Ehekrise, in der über Probleme nicht geredet wird, muss Eilis entscheiden, was sie eigentlich will. Jim wiederum muss sich fragen, ob er die Gewissheit eines Lebens mit Nancy möchte oder das Vielleicht  mit Eilis. Toibin beschreibt die zauderliche Liebesbeziehung, aber auch die irische Kleinstadt der 70-er Jahre, in der alle viel zu gut über einander Bescheid wissen und ein langes Gedächtnis haben. Die ruhige, langsame Erzählweise passt zu den Figuren des Romans, die weniger durch lodernde Leidenschaft geprägt sind als über das Nachdenken über verlorene Möglichkeiten und verbleibende Chancen.


Colm Toibin, Long Island

Hanser 2024

320 Seiten, 26 Euro

 9783446279476

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