Disfunktionale Familiengeschichte
Von Tolstoj wissen wir, dass sich alle glücklichen Familien irgendwie ähneln, während unglückliche Familien stets ihr ganz eigenes Unglück mit sich herumschleppen. In Dana von Suffrins Roman "noch mal von vorne" ist die Familie entschieden unglücklich, nicht nur, weil gleich am Anfang ein Todesfall steht. Der krebskranke Vater stirbt, und Protagonistin Rosa erhält die Todesnachricht an ihrem Arbeitsplatz.
Der Tod eines Elternteils - erst recht, wenn es sich um den letzten Elternteil handelt - ist immer ein einschneidendes Verhältnis, egal wie kompliziert vielleicht zu Lebzeiten das Verhältnis war. Rosa weiß, plötzlich ist die ältere Generation weg. Es bleiben sie und ihre Schwester Nadja, aber das ist auch so eine schwierige Angelegenheit, die beiden haben schon länger nicht mehr miteinander zu tun gehabt, ja, Nadja hat sich eigentlich bereits mit 18 mehr oder weniger aus der Familie verabschiedet.
Das Ausräumen der Wohnung, in der sie als Kind aufgewachsen ist, bringt auch die Erinnerungen zurück, von denen Rosa erzählt. Die meisten sind ziemlich durchwachsen, und jedes Familienmitglied hat das sicher unterschiedlich gesehen. Rosa war die Harmoniebedürftige, Nadja die Rebellin. Die Eltern wussten irgendwann mal nicht mehr, warum sie eigentlich geheiratet hatten. Dann noch der nicht unkomplizierte Hintergrund - katholisch-bayrische Mutter, jüdischer Vater aus Israel, die Familie stammte aus Rumänien, ist Schoah-bedingt stark geschrumpft. Oma Zsusza jedenfalls war wohl nicht so begeistert über die goische Schwiegertochter, die sie konsequent mit falschem Namen anspricht.
Zwischen München und Israel, zwischen dem Lachen über den irgendwie peinlichen Akzent des Vaters, seine unter der Oberfläche lauernden Verletzlichkeiten und Ängste, der Suche nach Bestätigung durch die Mutter, deren kleine Fluchten immer weiter werden, fragt sich nicht nur Rosa, wie in dieser Familie alles zusammenpassen soll oder kann. Das familiäre Miteinander, es ist herbe. Gelingt die Annäherung erst, wenn die Beteiligten tot sind? Als Rosa endlich wieder auf Nadja trifft, kommt nicht gerade familiäre Harmonie auf. Doch selbst in dem stacheligen Mitarbeiter wird klar - man kann seine Familie lieben oder hassen, aber man kommt nicht ganz von ihr los. von Suffrin erzählt ihre disfunktionale Geschichte mit Witz und Beobachtungsgabe und lotet die Konflikte aus, die mehr als eine Generation überdauern. Gerade der Verzicht auf emotionalen Kitsch macht diesen Roman glaubwürdig.
Dana von Suffrin, Noch einmal von vorne
Kiepenheuer & Wistch 2024
240 Seiten, 23 Euro
9783462002973
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