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Es werden Posts vom Juni, 2024 angezeigt.

Altersweise, aber nicht altersmilde

 Elke Heidenreich ist 81. Da weiß man, die verbleibende Lebenszeit ist begrenzt. Eigentlich weiß man das auch irgendwann nach dem 40. oder 50. Geburtstag - es ist weniger übrig, als hinter uns liegt. In ihrem Buch "Altern" setzt sich Heidenreich mit dem Altwerden, dem Altsein, dem Selbstgefühl und dem Blick der Gesellschaft auf "die Alten" auseinander. Da sie sich jahrzehntelang mit Büchern und Lesen befasst hat, greift sie auch hier zur Literatur, findet Tröstliches, Kritisches, Diskussionswürdiges.  Es ist ein kluges Buch geworden - altersweise, aber nicht altersmilde. Mit kritischem Blick und mancher Spitze hat die Autorin all die Jahre gelebt, da will sie jenseits der 80 nicht die liebe, pflegeleichte Alte werden. Sie hat keine Angst, anzuecken, wenn sie sich dem Zeitgeist verweigert und auch Thesen äußert, die durchaus kontrovers sein können. "Altern" ist ein sehr persönliches Buch. Und es regt an, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, gerade wenn m

Midlife-Krise, Gier und Disfunktionalität beim Griff nach einem Fußballtraum

 Mit "Godwin" hat Joseph O´Neill eigentlich zwei Romane in einem geschrieben, die sich zunächst nur flüchtig berühren und erst am Ende zusammenfinden. So flüchtig, dass ich zunächst gar nicht merkte, dass der Ich-Erzähler gewechselt hatte. Büro-Intrigen und zerplatzende Träume von einem Arbeitskollektiv, in dem solidarisch an einem Strang gezogen wird einerseits, eine atemlose Suche nach einem großen Fußballtalent irgendwo in Westafrika einerseits. Passt das zusammen? Nachdem sich die erste Verwirrung darüber gelegt hat, wer hier eigentlich erzählt, durchaus. Gier und Opportunismus spielen in beiden Plots eine Rolle. Da ist einmal Lakesha,  die Co-Gründerin einer Genossenschaft von technischen Redakteuren in Pittsburgh. Sie ist durchaus Idealistin - Teilzeitgehalt für vollen Einsatz, doch sie glaubt an die Idee des Kollektivs, in dem sie als Enddreißigerin viel Fluktuation erlebt. Doch die Stimmung ändert sich, als sich eine der jüngeren Kolleginnen als Intrigantin entpuppt u

Tod eines Polizisten in einem zerrissenen Land

  Kinny Glass arbeitet zwar bei der Polizei, mit Ermittlungen hat sie allerdings in der Regel wenig zu tun: Als Psychologin ist sie mehr für Supervision zuständig, aber auch Ansprechpartner für Polizeibeamte in schwierigen Lebenslagen, nach traumatischen Einsätzen usw. In Alfred Bodenheimers "In einem fremden Land" betätigt sie sich dann aber doch als Detektivin, denn der Chef der Bereitschaftspolizei, der sie noch wenige Tage zuvor aufsuchte und über Schlafstörungen klagte, die auch ein Hinweis auf Depressionen sein könnten, ist tot: Während eines Urlaubs auf Zypern stürzte er in eine Schlucht und sowohl die zypriotischen wie auch die israelische Polizei legen sich schnell auf einen tödlichen Unfall fest. Nach einem Gespräch mit der Witwe stößt Kinny allerdings auf Auffälligkeiten. Eine junge Polizistin, die einen autistischen jungen Palästinenser erschossen hat, sagt im Gespräch mit Kinny, sie habe den Anweisungen des nun toten Chefs gefolgt, proaktiv zu schießen, um Terror

Coming of Age und Coming Out

 In seinem Coming of Age-Roman "Wünschen" schildert der nigerianische Autor Chukwuebuka Ibeh die Entwicklung eines jungen Mannes aus einer Igbo-Familie in Port Harcourt, der mit dem Erkennen seiner Homosexualität auch ein Leben voller Angst, Repression und Versteckspielens erlebt. Dass Obiefuna ganz anders als sein jüngerer, aber dominanter Bruder ist, ist allen in der Familie früh klar. Obiefuna ist beim Fußballspielen ein Versager, aber ein guter Tänzer. Doch je älter er wird, desto mehr stört sich sein Vater daran, wenn Obiefuna Tanzschritte probt. Was für ein Kind noch in Ordnung war, schickt sich für einen jungen Mann nicht mehr. Homosexualität ist in Nigeria, ähnlich wie in den meisten Staaten Afrikas, illegal. Eine Aufklärung über sexuelle Identitäten etwa in der Schule gibt es nicht. Auch Obiefuna kann anfangs seine Gefühle noch nicht benennen, doch zum Lehrling seines Vaters, eines Händlers, fühlt er sich hingezogen. Es passiert eigentlich gar nichts zwischen den bei

Auftragsmörder ohne Ausstiegsklausel

  Spätestens seit "Bullet Train" ist Kotaro Isaka auch einer westlichen Leserschaft bekannt als Autor fernöstlicher Spannung im Milieu der Auftragskiller, der Gewalt mit einem Hauch von Philosophie oder auch Humor zu verbinden weiß. Sein neues Buch "Der Profi" ist da keine Ausnahme  und erlaubt sogar ein kurzes Wiedersehen mit Lemon und Tangerine, dem Killer-Duo aus "Bullet Train". Auch eine Reminiszenz an die "Hornisse" gibt es. Vor allem aber geht es um Kabuto, der seine erfolgreiche Karriere als Auftragsmörder erfolgreich hinter dem eher langweiligen Alltag eines Angestellten im Vertrieb zu verbergen weiß.  Anders als seine mitunter als Alphamännchen auftretenden Kollegen wirkt er unauffällig, bescheiden. Auch im Privatleben erinnert nichts an seinen illegalen Broterwerb - Kabuto ist ein zurückhaltender Familienvater, ein bißchen auch ein Pantoffelheld, denn einen großen Teil seines Denkens bestimmen Überlegungen, wie er verhindern kann, dass

Grenzen und Fluchtorte

 Dass die Schauspielerin Katja Riemann sich auch als Botschafterin für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR engagiert, habe ich erst beim Lesen ihres Buchs "Zeit der Zäune" erfahren. Riemann hat für die Recherchen Lager und Orte entlang der Balkanroute und am Mittelmeer, in Nordafrika und den berühmten Dschungel von Calais besucht. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Buch, das Menschen und Schicksale vorstellt, durchaus Partei ergreift und weniger Analyse als subjektiver Blick ist. Riemann schreibt empathisch, teilweise regelrecht poetisch, ist mehr dem künstlerisch inspirierten storytelling als der klassischen Reportage zugeneigt, wenn sie Lesern berichtet, die in der Regel noch kein Flüchtlingslager von innen gesehen haben. Es ist eine durchaus selektive Darstellung, denn Riemann stellt Menschen mit künstlerischen Ambitionen vor, Nichtregierungsorganisationen die, ich sag´s mal etwas boshaft, die schönen Dinge im Lager machen, wie Kunst, eine Filmschule in Moria auf Lesbo

Familiengeheimnisse, Liebe und Versöhnung

Viele Geheimnisse werden aufgedeckt, doch "Black Cake" von Charmaine Wilkerson ist kein Krimi, sondern eine Familiengeschichte. Die Geschwister Benny und Byron haben sich jahrelang nicht gesehen,  seit die sich unverstanden und unakzeptiert fühlende Benny den Kontakt zur Familie gekappt hat. Nun ist Eleanor Bennett, die Mutter gestorben. Bei der Beerdigung ist die Stimmung zwischen den Geschwistern, die sich einst so nahestanden, zunächst einmal frostig.  Um die letzten Wünsche ihrer Mutter kennenzulernen, müssen sich die beiden allerdings erst einmal eine längere Audioaufnahme anhören, die die Eleanor vor ihrem Tod angefertigt hatte, um Ungesagtes nicht mit ins Grab zu nehmen. Es ist nicht nur eine Liebeserklärung an ihre Kinder, Eleanor deckt auch ihre Familiengeschichte auf, wie sie von einer karibischen Insel erst nach Großbritannien, dann in die USA kam.  Dass der Weg ihrer Eltern, geprägt von Aufstiegswillen und der Betonung von Bildung und Leistung auch eine Flucht vor