Midlife-Krise, Gier und Disfunktionalität beim Griff nach einem Fußballtraum

 Mit "Godwin" hat Joseph O´Neill eigentlich zwei Romane in einem geschrieben, die sich zunächst nur flüchtig berühren und erst am Ende zusammenfinden. So flüchtig, dass ich zunächst gar nicht merkte, dass der Ich-Erzähler gewechselt hatte. Büro-Intrigen und zerplatzende Träume von einem Arbeitskollektiv, in dem solidarisch an einem Strang gezogen wird einerseits, eine atemlose Suche nach einem großen Fußballtalent irgendwo in Westafrika einerseits. Passt das zusammen? Nachdem sich die erste Verwirrung darüber gelegt hat, wer hier eigentlich erzählt, durchaus. Gier und Opportunismus spielen in beiden Plots eine Rolle.

Da ist einmal Lakesha,  die Co-Gründerin einer Genossenschaft von technischen Redakteuren in Pittsburgh. Sie ist durchaus Idealistin - Teilzeitgehalt für vollen Einsatz, doch sie glaubt an die Idee des Kollektivs, in dem sie als Enddreißigerin viel Fluktuation erlebt. Doch die Stimmung ändert sich, als sich eine der jüngeren Kolleginnen als Intrigantin entpuppt und die alte Struktur der Genossenschaft zusehends zerbricht.

Auch Wolfe, der andere Ich-Erzähler, arbeitet in der Genossenschaft, auch wenn er sich dort nicht viel blicken lässt. Von seinen linken Idealen hat er sich weitgehend getrennt, als Familienvater spielt Geld plötzlich eine viel wichtigere Rolle und überhaupt ist die Kleinfamilie für ihn wie ein schützender Kokon angesichts des schwierigen Verhältnisses zu seiner Mutter, die ihn und den mittlerweile verstorbenen Vater verlassen hat, als er fünf Jahre alt war.

Ein "Urlaub", der im nach einem unerfreulichen Auftritt im Büro nahegelegt wurde, führt Wolfe nach London zu seinem Halbbruder Geoff, der ihn um Hilfe bei der Suche nach einem jungen Fußballtalent irgendwo in Afrika anfleht. Die beiden Brüder sind sich nicht sonderlich nahe, Wolfe fühlt sich von dem Jüngeren übervorteilt und mit falschen Versprechungen angelockt, doch nichtsdestotrotz unternimmt er die Fahrt - Geoff ist durch einen Gipsfuß nicht reisefähig - nach Le Mans, um einen alten afrika-erfahrenen Fußballscout zu treffen. Ist der Junge auf Geoffs Telefonvideo der Spieler, den der Franzose einmal in Togo zufällig sah und der nach dem Spiel verschwunden war, ein Junge, der wie Messi ist?

Fußball steht in diesem Buch sowohl für Aufstiegsträume als auch für eine Form von Kolonialismus, gleichzeitig schimmert die Liebe zum Spiel immer wieder durch die Dialoge. Namensgeber Godwin, der talentierte junge Spieler, dessen mutmaßlichen Aufenthalt Wolfe dank eines speziellen Computerprogramms ausfindig machen kann, erscheint lange wie eine Fata Morgana. Die Jagd nach dem Fußballtalent vertieft die Risse in Wolfes disfunktionaler Ursprungsfamilie eher noch.

Mit disfunktionalen Familien kennt sich auch Lakesha aus, die in prekären Verhältnissen in einem Schwarzenviertel von Wisconsin aufgewachsen ist. Die Mutter starb früh, ihre ältere Schwester, als Vormund mit 19 Jahren überfordert, traf falsche Entscheidungen und die falschen Männer. Ein Studienberater, der Lakesha ein Vollstipendium für die angesehene Universität in Pittsburgh verschaffte, half ihr dabei, die Weichen ihres Lebens neu zu stellen.

O´Neill lässt angesichts der flüchtigen Zusammenhänge zwischen den Erlebnissen LaKeshas und Wolfes lange Zeit offen, was außer der Genossenschaft der gemeinsame Nenner der beiden Erzählstränge ist. Wie es dann doch zu einer Verbindung kommt, hat mich überrascht. Man braucht beim Lesen ein bißchen Durchhaltevermögen, aber im letzten Abschnitt führt der Autor die Fäden gekonnt zusammen. 


Joseph O´Neill, Godwin

Rowohlt 2024

432 Seiten, 28,80 Euro

9783498050481

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