Das Wegschauen und das Komplizentum - kluge Analyse des Dritten Reichs

 In seinen Büchern über das nationalsozialistische Deutschland hat der Historiker Götz Aly schon wiederholt die Stimmung der Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg untersucht. Mit seinem neuen Buch "Wie konnte das geschehen?" versucht er Antworten zu geben auf eine Kernfrage, die wohl alle beschäftigt, die sich mit dem Dritten Reich, der Schoah und deutschen Kriegsverbrechen befassen oder darüber lernen. Das Buch mit teilweise persönlichen Elementen beim Rückblick auf das Verhalten und die Stimmung in der eigenen Familie liefert viel Stoff zum Nachdenken - auch und gerade dann, wenn Vergleiche zu den Themen und Strategien rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien und Gruppierungen in der Gegenwart gezogen werden.

Aly zeigt, dass das Komplizentum und die Einbindung der "Normalbevölkerung" weitaus verbreiteter waren und auf vielen Ebenen stattfanden, eben nicht nur bei denen, die 1938 dank "arisierter" Betriebe und Geschäfte wirtschaftlich ganz anders durchstarteten. Dass der Ausschluss von Juden von Bildungseinrichtungen und ihre Verdrängung aus guten beruflichen Positionen Chancen öffnete für viele, die vielleicht weder politisch noch antisemitisch waren, die aber gleichwohl von der antisemitischen Politik profitierten und Aufstiegschancen erhielten, die zuvor nicht denkbar gewesen wären.  Dass es eben nicht nur die immer wieder zitierten Autobahnen waren, die Arbeitsplätze schufen sondern Gesetzespakete für mehr soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter, die für viele Menschen eine tatsächliche Verbesserung der Lebensumstände bedeuteten und die Bevölkerung gewissermaßen einfingen.

Aly räumt auch mit zahlreichen Legenden auf, etwa dem Heldentum und der Verfolgung von Gewerkschaftern, Sozialdemokraten oder Kommunisten, die seinen Zahlen zufolge deutlich niedriger ausfiel als in der Nachkriegszeit verbreitet. Mit Untersuchung unter anderem der Goebbels-Tagebücher, oder zeitgenössischer Medienberichterstattung geht er auch díe Entschuldungsbehauptung an, die Menschen in Deutschland hätten ja nichts gewusst: Die Deportationen von jüdischen Mitbürgern begann mit allseits sichtbaren Zügen durch deutsche Städte, die Absichten des Regimes gegenüber den deutschen wie europäischen Juden waren keineswegs unverschleiert und wurden immer deutlicher, je weiter der Krieg voran- und der deutschen Niederlage entgegenschritt. Dies auch, um ein Gefühl von "Mitgefangen, mitgehangen" zu erzeugen, wie auch die Analyse von Soldatenbriefen insbesondere von der Ostfront zeigt: Wer so viele Verbrechen sah oder daran beteiligt war, hat allen Grund, die Rache der Sieger zu fürchten.

Ein wenig erinnert die Analyse an den Clinton-Wahlkampfslogan "It´s the economy, stupid!" - denn die Argumentation Alys beruht darauf, dass es weniger Ideologie war, die das nationalsozialistische Deutschland prägte, sondern wirtschaftliche und politische Interessen, bei der jüdisches Eigentum eine wichtige Rolle spielte - auch bei der Finanzierung des zunehmend verschuldeten Staates. Mit diesem Ansatz unterscheidet er sich von vielem, was etwa in meinen Geschichtsbüchern im Schulunterricht stand und liefert auch plausible Erklärungen auf die Frage "Wie war es möglich" - es hatte sich für viele einfach gelohnt.

Götz Aly, Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945

S. Fischer 2025

768 Seiten, 34 Euro

9783103973648




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