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Es werden Posts vom April, 2025 angezeigt.

Spurensuche, zwei Generationen danach

 Vielleicht hätte sich Pippa Goldschmidt ohne den Brexit nicht zu diesem Schritt entschlossen - die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, zusammen mit ihrem Vater, der - wie sie später in ihrem Buch "Deutschstunden" andeutet - davon zunächst gar nicht begeistert war. Ein Recht auf einen deutschen Pass, ohne Einbürgerungstest und Sprachnachweis, hatte sie aufgrund ihrer Familiengeschichte: Großvater Ernst war als junger Mann in den 1930-er Jahren aus seiner Heimatstadt Frankfurt nach Großbritannien emigriert. Der Jurist, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatte, wusste, dass er als Jude im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr sicher war. Seine Mutter würde ihm später folgen, gerade noch rechtzeitig. Pippa Goldschmidt hatte ihren Großvater nie kennengelernt, er war vor ihrer Geburt gestorben. Ihre Großmutter, die aus ihrer Geburtsstadt Wien vor den Nazis nach Großbritannien geflüchtet war, hatte nie von ihren Erfahrungen und dem Schicksal ihrer Fami...

Spionin in Landkommune

 Sadie Smith, die Protagonistin in Rachel Kushners ungewöhnlichem Spionageroman "See der Schöpfung", heißt eigentlich ganz anders - aber Namen sind für die Ich-Erzählerin so eine Sache. Sie schlüpft scheinbar mühelos in neue Identitäten, die sie über Monate aufrechterhält, in ein erfundenes Leben eintaucht. Früher für die CIA, mittlerweile für private Auftraggeber. Anders als James Bond hat sie keine Lizenz zum Töten, sondern verlässt sich eher auf die Waffen einer Frau, insbesondere ihre beachtlichen, wenn auch nicht ganz echten Brüste. Und statt Martini bevorzugt sie französische Weine.  Ihr neuer Auftrag führt Sadie auch nicht in den internationalen Jet-Set, in dem sich 007 bewegt, sondern in eine französische Landkommune. Die Annäherung war lang und konspirativ, auch etwas, was in einem James Bond-Film nie vorkommt: Die angebliche Langzeit-Literaturstudentin hat ein Verhältnis mit Lucien begonnen, einem Regisseur aus großbürgerlicher Pariser Familie. Lucien glaubt selbstv...

Weltgeschichte im Schnelldurchlauf

 Bücher über historische Ereignisse füllen oft und locker hunderte von Buchseiten - um so erstaunlicher ist es, dass "Die Geschichte der Welt" von Volker Reinhardt gerade einmal 144 Seiten umfasst. Also denkbar knapp für einen globalen Ansatz. Das Buch ist denn auch Weltgeschichte im Schnelldurchlauf für interessierte Laien, die weg von eurozentristischen Blickwinkel wollen.  Reinhardt vergleicht geografische und kulturelle Räume, rückt auch asiatische und südamerikanische Entwicklungen in den Mittelpunkt. Der globale Ansatz zeigt sich auch beim Blick auf Afrika, vom europäischen Blick häufig vernachlässigt und erst mit der Neuzeit durch Sklavenhandel, Entdeckungsreisen und Kolonialismus in die Aufmerksamkeit rückend.  Dass der Autor nicht ins Detail gehen kann, sondern eher Entwicklungen grob skizziert, ist angesichts der umfassenden Thematik leicht verständlich. Anregungen zum Nachdenken und vertiefenden Weiterlesen gibt es dennoch. Reinhardts Buch ist sowohl eine Gesch...

Wege aus Russland

 Michael Thumann, Moskau-Korrespondent der "Zeit" hat mit seinem Buch "Eisiges Schweigen flussabwärts" einen politischen Reisebericht geschrieben, der auch eine Geschichte der Ernüchterung und Desillusionierung ist. Als Osteuropa-Historiker und Slawist hat er sich schon während seines Studiums in den 80-er Jahren mit der damaligen Sowjetunion befasst und nach Kindheitserfahrungen im Kalten Krieg die Gorbatschow-Jahre mit Glasnost und Perestrojka erlebt. Freunde, die zu jener Zeit in Moskau oder Leningrad studierten, erkennen das Land nicht wieder - zu sehr hat es sich unter Putin und seinen imperialen Träumen verändert. Thumann hat diese Veränderungen im Laufe dreier Korrespondenten-Stationierungen miterlebt, selten so drastisch wie seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der auch die Arbeit und das Leben ausländischer Journalisten umfassend beeinflusste, angefangen von der nur noch für drei Monate ausgestellten Akkreditierung über immer weniger Zugang ...

Detaillierte Geschichte der Hisbollah

 Wer auf der Suche nach Hintergründen und Vernetzungen der bewaffneten Gruppen im Nahen Osten ist, scheint an Joseph Croitoru nicht vorbei zu kommen. Im vergangenen Jahr las ich mit großem Interesse sein Buch über die Hamas, nun sein neues Sachbuch über die Hisbollah. Einmal mehr zeigt sich Croitoru als gründlicher und faktenreicher Rechercheur, der nicht nur auf die jüngsten Entwicklungen eingeht, sondern Zusammenhänge erklärt und einordnet. Sein Buch beschreibt nicht nur den Werdegang und Aufstieg führender Persönlichkeiten wie des im vergangenen Jahr bei einem israelischen Angriff getöteten Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah. Es ist auch ein Abriss der Geschichte des Libanon in den vergangenen Jahrzehnten und der Rivalitäten der verschiedenen religiösen und politischen Gruppen. Wer kein Religions- oder Islamwissenschaftler ist, bekommt einen Einblick in die historische Spaltung in Schiiten und Sunniten. Natürlich geht es auch um die Rolle des Iran und der islamischen Revolution ...

Grischa, der schwarze Afghane und die Unterwanderung des Kapitalismus

 Vielleicht sollte man in der Zeit des Kalten Krieges aufgewachsen sein oder den real existierenden Sozialismus a la DDR selbst erlebt haben, um Jakob Heins Roman "Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste" richtig würdigen und genießen zu können. Aber auch nachgeborene Generationen dürften an der witzigen und unterhaltsamen alternativen Geschichtsschreibung deutsch-deutscher Verhältnisse in den 80-er Jahren Spaß haben. Hein führt die Leser*innen zurück in die frühen 80-er Jahre. Helmut Kohl ist Bundeskanzler und setzt auf die geistig-moralische Wende, die Handlung spielt allerdings ganz überwiegend in der DDR. Grischa, linientreuer Kadersprössling, SED-Mitglied und für den Sozialismus brennend, ist aus der thüringischen Provinz nach Berlin gezogen, um seine erste Stelle anzutreten. Bei der Plako, der staatlichen Planungskommission! Der ehrgeizige junge Mann kann es gar nicht erwarten, so richtig loszulegen. Und erleidet erst einmal einen Realität...

Norwegischer Politthriller von beklemmender Aktualität

  Mit "Echokammer" hat der norwegische Autor Ingar Johnsrud einen Polizei- und Politikthriller von beklemmender Aktualität geschrieben. Der Auftakt einer Reihe um die Ermittler Liselott Benjamin und Martin Tong ist vielverprechend und macht neugierig auf mehr. Dabei liegt Johnsrud in der Tradition von Scandinavia noir mit gesellschaftskritischen Zügen. Und die Themen des spannenden Thrillers klingen auch hierzulande nur zu vertraut. Es ist Wahlkampf in Norwegen und die traditionsreiche Arbeiterpartei will sich die Regierungsmehrheit zurückholen. Die ehrgeizige Vizechefin der Partei und designierte Justizministerin im Fall eines Wahlsiegs forciert das Thema Migration, versucht Stimmen vom rechten Rand zurückzugewinnen, indem sie dessen Parolen übernimmt: etwa Abschiebungen und Aberkennung der Staatsbürgerschaft bei kriminellen Norwegern, deren familiäre Wurzeln im Ausland liegen.  Ihr juristischer Berater Jens Meidell, bislang Polizeijurist und Spross einer einflussreichen Pol...

Ukrainisches Kriegstagebuch

 Die Waffe von Schriftstellern sind Worte. Auch der ukrainische russischsprachige Schriftsteller Andrej Kurkow versucht mit seinem Kriegstagebuch "Im täglichen Krieg" auf diese Weise aufzurütteln, Aufmerksamkeit für die Lage in seinem Land zu wecken, damit die Weltöffentlichkeit sich nicht irgendwann an den Status quo gewöhnt und zur Tagesordnung übergeht. Schreiben heißt erinnern  - an den russischen Angriffskrieg, an die Massaker und Kriegsverbrechen, an die Leugnung und Unterdrückung ukrainischer Identität, die Zwangsrussifizierung in den besetzten Gebieten. Vor Jahren las ich Kurkows wunderbares Buch "Graue Bienen" über einen alten Imker im Donbas - der Krieg hatte aus der Sicht der Ukrainer bereits zu jener Zeit, im Jahr 2014, begonnen. In seinem Kriegstagebuch führt Kurkow seine Leser*innen durch Bombennächte und Luftschutzkeller, durch den Alltag und die Versuche, das Leben weiter zu führen, die Militarisierung und Mobilisierung auf beiden Seiten. Dabei gibt ...

Fährmann-Saga

 Joachim B. Schmidt mag Schweizer sein, aber ganz offensichtlich ist er stark mit Island verbunden. Seine beiden "Kalman"-Romane mit ihrem ganz besonderen Protagonisten habe ich sehr gerne gelesen und war daher neugierig auf "Osmann". Das Buch über einen Fährmann Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts ist sowohl historischer Roman als auch Porträt eines sowohl starken, als auch dichtenden Isländers, deutlich düsterer als "Kalman", der mehr ein reiner Tor ist. Schmidt romantisiert das Island der beschriebenen Ära nicht, gekennzeichnet von Armut und Rückständigkeit, schlechten Lebensbedingungen und hoher Kindersterblichkeit. So manche Dorfhütte verfällt, weil die Bewohner in der Neuen Welt eine bessere Zukunft gesucht haben. Osmann, der Fährmann, bleibt, denn einer muss ja die Menschen über den Fluss setzen. Sowohl Einsamkeit als auch Gastfreundschaft werden geschildert, reichlich Alkohol soll die Kanten des harten Lebens abschärfen, das nicht nur aus körp...

Innenansichten des Trump-Wahlkampfs

 Nicht nur bei den Anhängern der US-Demokraten dürfte der Katzenjammer im vergangenen November groß gewesen sein, als zunächst Prognosen und später Stimmenauszählungen klar machten: Donald Trump kehrt ins Weiße Haus zurück. Wie konnte das möglich sein, angesichts der erratischen ersten Amtszeit, der Unberechenbarkeit des Kandidaten, von seinen zahlreichen juristischen Problemen einmal ganz abgesehen? Wie konnte eine Mehrheit der Amerikaner*innen diesen Mann für wählbar halten? In seinem Buch "Alles oder nichts" gibt der US-Journalist Michael Wolff Innenansichten in die Trump-Wahlkampagne, in den Kreis der Spender und Mitarbeiter, die internen Intrigen und den Umgang mit den zahlreichen Klagen. Seine Quellen verschleiert er dabei - und nach der Lektüre des Buches ist ziemlich klar, dass kein Informant Wolffs Interesse haben dürfte, als Leak identifizierbar zu sein. Das ist einerseits die Schwäche dieses gut lesbaren Buches - Behauptungen und Beschreibungen sind nicht verifizie...